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Verschiedene Screenshots von Aitana López, einem KI-generierten Avatar. SUR/THE CLUELESS AIGENCY

Reise in die Welt der generativen KI

Technologie. Avatare machen sich in unserem Leben breit. Sie schlafen nicht, essen nicht, verdienen viel Geld und verwischen die Grenzen der Realität

MATÍAS STÜBER

Donnerstag, 27. Februar 2025

Unter den Besuchern auf dem Monegros Desert Festival, einem der innovativsten Festivals Spaniens, sticht eine junge Frau hervor und zieht alle Blicke auf sich. Ein luftiges weißes Top gibt Schultern und eine schmale Taille frei. Perfekt geformte Brüste, schönes Haar, volle Lippen, dunkle Sonnenbrille, ein angedeutetes Lächeln und ein Selbstbewusstsein, das zu sagen scheint: «Ich erlebe gerade eine Erfolgsgeschichte.» Kaum möglich, sie nicht anzuschauen.

Sie, das ist Aitana López, Wohnsitz Barcelona. Die ersten Schritte in ihrer Berufslaufbahn machte sie als Dessous-Model. Fotos aus jenen Zeiten gibt es noch. Seither ist sie zur Kultfigur für Männer und Frauen geworden. Ihr Gesicht lächelte sogar schon für eine Kampagne von Starfriseur Llongueras von Bildschirmen am Times Square herunter. Damals tauschte sie ihr charakteristisches rosa Haar gegen eine Kupferfärbung ein. In den sozialen Netzen schwärmte ein Fan: «Mit dieser Farbe bist du noch schöner.» Egal ob im Top beim Sport oder elegant mit Blazer. Ob in eng anliegender Hose oder im 'Baggy'-Style. Gleich, was Aitana trägt, es sitzt perfekt. Aitana – oder auch 'Fit Aitana', wie ihre über 350.000 Follower sie nennen – ist einfach zu schön, um wahr zu sein. Und das ist sie auch nicht. Die makellose Frau, die aus dem Publikum von Monegros heraussticht, ist ein mit künstlicher Intelligenz geschaffener Avatar.

«Schönheit ist die Wahrheit, Wahrheit das Schöne», schrieb der englische Dichter John Keats in seiner Ode auf eine griechische Urne. Heute sind beide Feststellungen nicht mehr wahr und überall wird daran gearbeitet, diese genialen Worte zu untergraben. Mit einem Mausklick ist man bei Agenturen, die Influencer oder Models anbieten, um für jede Art von Event oder Marke Werbung zu machen. Nicht alle Avatare haben in den sozialen Netzen die gleiche Reichweite wie Aitana mit Hundertausenden von Followern und Plattformen, auf denen die Erschaffer dem Publikum Märchen über das perfekte Leben erzählen. Aber auch die restlichen KI-Frauen haben ein fabelhaftes Aussehen. Bemerkenswertes Haar, feste Brüste, lange Beine, glatter Teint.

KI-generierte Avatare sind auf dem Vormarsch und zeigen, dass die Grenze zwischen echt und unecht immer kleiner wird

Schnell kommt man zu dem Schluss, dass hier die Perfektion eine sehr eindimensionale ist. Anders gesagt: Das Ideal von Schönheit in einer durch KI geprägten Welt ist ein durch und durch westlich-angelsächisches Ideal.

Das potenzielle Interesse von Marken an Models wie Aitana López ist riesig. Kein Wunder: Sie altern nie, kommen nicht exzentrisch daher und haben jederzeit die komplette Kontrolle über ihre Handlungen. Die Liste der Vorzüge kann noch erweitert werden und dürfte wohl jeden Buchhalter, der nur reine Zahlen kennt, in Verzückung geraten lassen: Diese Models schlafen nie, essen nicht und kosten weniger.

Rubén Cruz, blond, Tattoos wohin man auch schaut, Nasenpiercing, ist aus Fleisch und Blut. Er ist 28 Jahre alt und seine Karriere hat durchaus ein Verfallsdatum. Cruz ist CEO bei The Clueless Aigency, der Agentur, die hinter Aitana López steckt. Er und seine Geschäftspartnerin, Diana Núñez (30), sind die Eltern der Kreatur. Kennengelernt haben sie sich auf der Universität. Später gründeten sie ihre Werbe- und Kommunikationsagentur. Zu Beginn eine Agentur wie viele andere. «Wir hatten nur wenig zu tun. Es ist ein sehr überfüllter Markt und da zählen vor allem Kontakte», erinnert sich Cruz an die Anfänge.

Auf der Suche nach einer Marktnische durchliefen die beiden Geschäftspartner einen transzendentalen Gedankenprozess. «Wir wurden uns bewusst, dass in unserer Branche viel Geld in externe Dinge fließt. In Models, Fotografen, Influencer, Catering... In einer spontanen Idee kamen wir zu dem Schluss: 'Wir leben in der Welt der Influencer und wir befinden uns in der Welt der KI»", sagt Cruz. Sie brachten die beiden Welten zusammen, The Clueless Aigency war geboren und bietet seither ausschließlich durch künstliche Intelligenz generierte Avatare an.

The Clueless Aigency ist kein großer Firmensitz im Technologiepark. Vielmehr ist es ein 40 Quadratmeter großes Büro im Erdgeschoss. Gerade einmal Platz genug für die sechs Angestellten. Nebenan der typische chinesische Billig-Supermarkt, der sogar lose Zigaretten und stimulierende Getränke im Sortiment hat. Bei The Clueless Aigency gibt es zwar keinen Kicker, dafür aber blank geputzte Tische mit Computer.

Und mehr ist wohl auch nicht nötig, um sich den Weg in die Zukunft zu bahnen. Das Ziel des jungen CEO ist schnell zusammengefasst: Marken und Unternehmen helfen, ihre Produkte mit Hilfe von KI besser zu vermarkten. «Wir haben uns in nur einem Jahr 1.000 Prozent weiterentwickelt. Früher brauchten wir eine Woche, um ein Bild von Aitana fertigzustellen. Heute können wir 300 an einem Tag machen», sagt Cruz. Seit ihrer Erschaffung hat Aitana das selbe Alter, in ihrem Modelbook beschreibt sie selbst als «virtuelle Seele» und «Fitness-Fan». Über Instagram gelangt sie zu ihren Followern. Und verdient Geld. Rund 10.000 Euro monatlich, wenn es nicht so gut läuft, dazwischen liegen die Spitzen. «Die Technologie, die man benötigt, ist auch nicht so teuer. Ich habe vielleicht rund 50.000 Euro in Computer gesteckt. Das ist natürlich schon eine Summe, aber damit kann ich jetzt einen Service anbieten, der Unternehmen viel Geld sparen lässt. Und jetzt kann ich mit geringen Ausgaben Geld verdienen», erklärt Cruz und fährt fort: «Wir arbeiten mit einer Modefirma zusammen. Ein Shooting kostet 80.000 Euro. Ob das jetzt teuer oder billig ist, das will ich nicht bewerten. So ist der Markt und Punkt. Diese Marke ruft mich also an und ich kann das Gleiche anbieten, ohne dass es real ist, dafür aber nur 35.000 Euro kosten wird.»

Man sollte jetzt allerdings nicht den Fehler machen, zu glauben, die Erstellung von Avataren auf diesem Niveau sei wie 'Die Sims' zu spielen. Cruz und sein Team haben ein Jahr gebraucht, bis der Durchbruch kam. Fragt man ihn nach den Stunden seines Arbeitstags, antwortet er, viel schlafen würde er nicht. Man spürt, hier ist ein Team, das sein gesamtes Herzblut gibt, um einer hyperrealistischen Phantasiefigur Leben einzuhauchen.

Aitana López steht auch für eine Kreativabteilung, die sich der Kontinuität und einer Biographie verschrieben hat, die so schlüssig wie eben möglich ist und keine Skandale kennt. Nur so kann ein risikoloses Werbeumfeld garantiert werden. Vom Storytelling, also den kleinen Häppchen, die über Aitana via Instagram oder Tik-Tok erzählt werden, hängt es ab, ob die Zahl der Follower steigt oder sinkt. Avatare müssen Sympathie ausstrahlen und Gefühle erzeugen.

Dilemmas

In Momenten, in denen Neues entsteht, taucht auch die Frage auf, in wieweit die virtuelle Welt die Zukunft bestimmt. Warum sollte man für Fotos zu entlegenen Stränden reisen, wenn man denselben Strand auf perfektere Weise im Computer darstellen kann? Warum die analoge Produktion einer Werbekampagne auf sich nehmen – inklusive Kameras, Produktionsteam, Casting, Caterin, Hotelübernachtungen, Fahrer und Fuhrpark –, wenn gleiche oder gar bessere Ergebnisse am Computer erzielt werden können? Es ist offensichtlich, dass mit der großen Transformation durch KI auch eine neue Ära begonnen hat. Geschichten, wonach Computer besser Schach spielen als die Großmeister, hören sich gestrig und irgendwie verstaubt an. Doch sie beschreiben die Anfänge des Eindringens neuer Technologien via Computer in unseren Alltag.

Antonio Diéguez ist Professor für Logik ud Wissenschaftstheorie an der Universität von Málaga (UMA). Er warnt vor den Risiken, nachdem KI eine Grenze überschritten habe und dem menschlichen Wesen so sehr ähnele, dass die differenzierenden Merkmale teils komplett verschwunden seien. «Der Fall der Avatare ist Teil der generativen künstlichen Intelligenz. Ich sehe da verschiedene Probleme. Das wichtigste ist die Verwechslung von Realität und Fiktion. Das kann viele Menschen verleiten, etwas als echt anzusehen, was es nicht ist», warnt Diéguez.

Um dem gewappnet zu sein, so der Wissenschaftler, sei eins von enormer Bedeutung: Regulierung. «Beispielsweise muss vorgeschrieben werden, dass jedes durch KI erzeugte Video oder Bild mit einem deutlich sichtbaren Wasserzeichen versehen wird», fordert Diéguez. «Oftmals wird behauptet, eine Regulierung der Technologie stünde der Innovation im Weg und darum würden wir in Europa nicht innovativ sein. Ich glaube, das ist falsch. Die innovativsten Technologien wie etwa die Biotechnologie sind seit sehr langer Zeit sehr stark reguliert. Und das hat der Innovation keinen Abbruch getan. Wir dürfen nicht zulassen, dass KI zu einem wilden Westen wird.»

Fragen der Ethik und Moral haben den Einzug der neuen Technologien von jeher wie ein großer Schatten begleitet. Sporadisch kommen Debatten hoch, in denen politische und legislative Maßnahmen gefordert werden. Grund zu Optimismus könnte sein, dass es ist nicht das erste Mal ist, dass die Menschheit einen technologischer Quantensprung verdaut. Juan Carlos Pérez ist stellvertretender Vizerektor für Kultur an der UMA. Er ist sehr kritisch und glaubt, KI sei mit nichts bislang Dagewesenem vergleichbar. Zwar erkennt er das Potenzial von künstlicher Intelligenz im Bereich der Medizin an, erschaudert jedoch angesichts der Folgen, die sie für künstlerisch Schaffende haben werde. «Tausende von Arbeitsplätzen sind in Gefahr. Avatare zeigen dies deutlich bei den Models. Doch das ist viel weitreichender. Denke man etwa an die Graphikdesigner», warnt er.

Gibt es also moralische Bedenken bei den 'Eltern' von Aitana López, einem der derzeit erfolgreichsten Avatare in Spanien? CEO Rubén Cruz gibt zu, während der einjährigen Entstehungsreise habe sich seine persönliche Sicht auf Ethik verändert. Heute gehe er eher den Weg des Pragmatismus denn der Reflexion. «Ich glaube, aus moralischen Gründen würde ich keine Dinge tun, die ich auch in der Realität nicht tun würde. Zum Beispiel: Hat man im Kino schon einmal jemanden gesehen, der ein Baby schlägt?»

Zurück an den Grenzen zwischen Realität und Irrealem informiert Instagram gerade, Aitana werde ein Flugzeug nach New York nehmen. Gleich darauf erscheint ein Bild mit einer Schachtel Donuts und der gut sichtbaren Marke. Aitana genießt also schon kulinarische Verlockungen der USA. Sie hat Glück, kann davon so viel essen wie sie mag, denn auf die Waage wird sie ein Zuviel an Süßem nicht bringen. Kann man sich auch in einen Avatar verlieben? So abwegig scheint auch diese Frage inzwischen nicht mehr. Und schon jetzt ist klar, dass die Frage nach Authentizität und den Zweifeln daran mehr und mehr Platz im Alltag einnehmen werden. Ein Kind, das heute geboren wird, steht vor einem Leben mit der Herausforderung, ständig zwischen Realem und Irrealem jonglieren zu müssen. Wahr oder nicht wahr – das ist die Frage, die sich heute schon die ganze Welt stellen muss.

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