Ein Kunstwerk der besonderen Art: die Kathedrale aus Bauschutt vor den Toren Madrids
60 Jahre baute Justo Gallego mit Bauschutt und recycelten Materialien vor den Toren Madrids eine gewaltige 'Kathedrale'. Vor vier Jahren starb er, konnte sein Lebenswerk nicht vollenden. Am 20. September wäre sein 100. Geburtstag
MANUEL MEYER
Madrid
Sonntag, 19. Oktober 2025
«Einfach unglaublich!» Bauingenieur Juan Carlos Arroyo war überwältigt, als er Justo Gallegos 'Kathedrale' zum ersten Mal sah. «Wie konnte ein einziger Mensch ohne jegliche Vorkenntnisse oder eine architektonische Ausbildung so ein Gebäude errichten?» Diesen Gedanken dürfte so ziemlich jeder Besucher haben, der in Mejorada del Campo vor den Toren Madrids die zwanzig rotgestrichenen Stufen zum Kathedralen–Eingang emporsteigt.
Zwei mächtige Ecktürme umrahmen den doppelstöckigen Portikus, der von kreuz und quer angelegten kaputten Ziegelresten geformt ist. Im zentralen Kirchenschiff gerät man vollends ins Staunen. Es handelt sich um eine 50 Meter lange, 20 Meter breite und 35 Meter hohe «Liebeserklärung an Gott und Jesus Christus», wie Justo gerne selber sein Gotteshaus beschrieb. Einen Plan – geschweige denn einen Bauplan – hatte Justo Gallego nie. Das hielt er für Zeitverschwendung. «Als ich im Oktober 1961 anfing, habe ich einfach das Fundament eines gigantischen Kreuzes gelegt und dann in die Höhe gebaut», sagte er.
Das Gelübde
Justo wollte eigentlich Mönch werden, erkrankte aber schwer an Tuberkulose, musste sein Kloster verlassen. Fast wäre er gestorben. Damals schwor er, Gott und der Jungfrau Nuestra Señora del Pilar eine Kirche zu bauen, sollte er die Krankheit überleben. Er überlebte und hielt sich an sein Gelübde. Kurzentschlossen verkaufte er den Bauernhof und die Ländereien seines bereits verstorbenen Vaters. Ein großes Areal am Rande von Mejorada del Campo behielt er für seinen Kathedralen-Bau.
Dann legte er einfach los. Er hatte zwar keine Ahnung von Architektur und Bauzeichnungen, aber eine tiefsitzende religiöse Motivation. Mauern, Schweißen, Zement mischen – er brachte sich alles selber bei. Er inspirierte sich in ein paar Büchern über alte Kirchen und mittelalterliche Burgen. «Die Kuppel ist dem Petersdom in Rom nachempfunden. Ansonsten sticht in meiner Kirche eher das Romanische hervor», hob er gerne selber hervor.
Justo hatte den Wunsch, etwas Großes zu schaffen, ein Kloster oder ein Priesterseminar. So erstreckt sich heute unter dem Kirchenschiff eine gewaltige Krypta, von der aus man in einen Kreuzgang gelangt, um den sich zahlreiche, zweistöckige Nebengebäude gruppieren. Es gibt Versammlungsräume, eine Bibliothek und eine Sakristei. Vor der Kathedrale befindet sich ein achteckiges Baptisterium. Fast 4.700 Quadratmeter Gesamtfläche. Die Kirche und Gebäude zieren 12 Türme und 28 Kuppeln.
«Aber es sind nicht nur die Ausmaße und Dimensionen, die beeindrucken. Es ist vor allem die Tatsache, wie Justo dieses Bauwerk praktisch alleine errichtet hat», erklärt Bauingenieur Juan Carlos Arroyo. Örtliche Bauunternehmen halfen ihm, mit Kränen größere Stahlträger oder schwere Bleche für das Dach zu installieren. Auch Ángel López, ein gelernter Maurer, half ihm über Jahre. «Der hagere Justo und der etwas fülligere Ángel erinnerten unweigerlich an Don Quijote und Sancho Panza», lacht Arroyo.





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Ansonsten werkelte Justo 60 Jahre lang an seiner Kathedrale. Jeden Tag – außer am Sonntag – stand er mit seinem Blaumann und seiner charakteristischen roten Wollmütze um 7 Uhr morgens auf der 'Baustelle Gottes'. Urlaub machte er nie. Mit seinen 1,52 m und 40 kg sah er gebrechlich aus. Doch sein Wille gab ihm anscheinend nie erahnte Kräfte. Er arbeitete praktisch bis zu seinem Tod im November 2021 an seiner Kirche. Er starb mit 96 Jahren. Am 20. September wäre Justo Gallego 100 Jahre alt geworden.
«Sein Arbeitsvermögen war übermenschlich», meint Arroyo. Er sei nicht gläubig: «Aber selten wurde mir so plastisch vor Augen geführt, dass der Glaube tatsächlich Berge versetzen kann». So warben auch Unternehmen wie der Energy–Getränkehersteller Aquarius mit Justo für ihre Produkte, der damit wiederum den Weiterbau seiner Kathedrale finanzierte. Das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) widmete seinem Kathedralen-Bau eine Fotoausstellung.
Arroyo kennt die Kathedrale wie kaum ein anderer. Als Justo sie kurz vor seinem Tod der katholischen Hilfsorganisation 'Mensajeros de la Paz' vermachte, beauftragte diese Arroyos Architektenbüro Calter, das Gebäude zu begutachten. Er nahm jeden Winkel unter die Lupe. Das Ergebnis überraschte selbst den Bauingenieur ein wenig: «Natürlich gab es Schwachstellen, aber es handelt sich um ein sehr solides Bauwerk.»
Dabei errichtete Justo seine Kathedrale praktisch mit Bauschutt und recycelten Materialien. Aus kaputten Stein- und Marmorplatten fertigte er Bodenmosaike. Kirchen schenkten ihm ausrangierte Kreuze und Heiligenstatuen. Bunte Glasflaschen dienten ihm für seine Kirchenfenster. Tennisbälle, Joghurtbecher und Blechbüchsen verputzte er zu dekorativen Rundelementen. Die Wärmetauschergitter alter Kühlschränke dienten ihm, mehr Stabilität in die Wendeltreppen seiner Türme zu bringen. Große Plastikeimer füllte er mit Zement, verputzte sie von außen und konstruierte mit ihnen Säulen und Rundbögen. «Er benutzte für die Schalung seiner Säulen Stahlmantelstrukturen, welche die Zementresistenz um 25 Prozent verbesserten, ohne das gelernt zu haben», erzählt Arroyo begeistert.
Fehlendes Werkzeug ersetzte er durch Ideen und Einfallsreichtum. «Er hatte ein angeborenes Gespür, eine natürliche Intuition, was bautechnisch funktioniert. Er brauchte nicht einmal Lotleinen», erklärt der Bauingenieur.
Ein Fahrrad verwandelte Justo kurzerhand in eine Konstruktion, mit der er dicke Drähte zu Spiralen aufwickelte, aus denen er Geländer und Rundbögen gestalten konnte. Oftmals schenkten ihm Bauunternehmen Zement und Ziegelsteine. «Er wollte aber nur gebrauchte Ziegel, denn der ökologische Fußabdruck seiner Kathedrale sollte möglichst gering sein», erinnert sich Arroyo an eines seiner letzten Gespräche mit Justo.
Für wohltätige Zwecke
So nutzt auch die katholische Hilfsorganisation 'Mensajeros de la Paz' Justos Kathedrale heute für Recycling-Workshops für Schulklassen. In der Kirche veranstaltet die von Priester Ángel García Rodríguez gegründete NGO Sozialprojekte, betreut Obdachlose und organisiert Armenspeisungen. Da es sich nicht um eine geweihte Kirche handelt, machte Padre Ángel sie auch zu einem Sozialzentrum für den interreligiösen Dialog. Im achteckigen Baptisterium beten Christen, Muslime und Juden sogar nebeneinander.
«Justo hätte sich gefreut zu sehen, was aus seinem Lebenswerk geworden ist», ist sich Padre Ángel sicher. Vor allem aber hätte er sich darüber gefreut, dass er die einzige Bedingung erfüllte, die Justo damals für seine Schenkung hatte. «Er bat mich, sein Lebenswerk zu Ende zu bringen», sagt der Priester.
Justo ahnte bereits vor langer Zeit, sein Lebenswerk nicht selber beenden zu können. Und er hatte Angst. Angst, die Behörden könnten seine 'Kathedrale' sogar abreißen, sollte er nicht mehr da sein. Denn eine Baugenehmigung hatte er nie und die katholische Kirche war nicht daran interessiert, sein Gotteshaus zu übernehmen. So wandte er sich an Padre Ángel.
Padre Ángel ist Spaniens bekanntester Geistlicher. Mit seiner NGO baute er Waisen- und Obdachlosenheime. In seinem 'Robin-Hood-Restaurant' speisen tagsüber zahlende Gäste und abends kostenlos Hilfsbedürftige. Für seine Sozialprojekte gewinnt er immer wieder die Unterstützung vieler Prominenter. Auch Spaniens Königspaar besucht seine Initiativen regelmäßig, um für sie Werbung zu machen. Für seine Arbeit wurde Padre Ángel sogar von der UNESCO geehrt und erhielt den Prinz-von-Asturien-Preis für Eintracht, der als spanischer Nobelpreis bekannt ist.
Nach der Bestandsaufnahme, die Padre Ángel bei Bauingenieur Juan Carlos Arroyo in Auftrag gab, gingen die Bauarbeiten los. Zwei Jahre lang wurden Geländer eingesetzt, halbfertige Türme vollendet und vor allem das Dach geschlossen, durch welches es ständig reinregnete. «Wir wollten aber nichts verschönern. Wir machten das Gebäude nur sicherer für Besucher. Den Geist von Justos Arbeit haben wir erhalten», versichert Padre Ángel. Nun ist das Gebäude offiziell zugelassen.
Doch einen letzten Wunsch möchte er Justo noch erfüllen. Dieser wollte unbedingt in der Krypta seiner Kathedrale bestattet werden. Das Grab im Zementboden legte er selber an. In sechs Jahren ist es soweit. Dann will Padre Ángel Justos Überreste vom Friedhof von Mejorada del Campo in die 'Kathedrale' überführen. Laut dem spanischen Bestattungsgesetz müssen Leichen zur Verwesung für mindestens zehn Jahre auf einem Friedhof beerdigt sein. Doch damit dürfte Justo Gallego kein Problem haben. «Er sagte mir immer, er habe keine Eile, weil auch sein Auftraggeber keine Eile habe. Er sprach von Gott», erklärt Bauingenieur Juan Carlos Arroyo.