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DOMINIK BLOEDNER
Donnerstag, 3. April 2025
Es ist der 23. Oktober 1980. Kurz vor zwölf Uhr mittags gerät die Welt auf einen Schlag aus den Fugen in Ortuella, einem kleinen Industriestädtchen im spanischen Baskenland unweit von Bilbao. Eine gewaltige Detonation erschüttert den Ort, irgendetwas scheint passiert zu sein in der Schule Marcelino Ugalde. Die Menschen eilen aufgeregt an den Ort des Geschehens.
Die Terrorbande ETA? Könnte durchaus sein. Es sind die bleiernen Jahre, kurz nach dem Übergang Spaniens zur Demokratie machen die Separatisten trotz weitgehender Autonomie fürs Baskenland weiter mit den Anschlägen, mit ihrem Krieg gegen Zivilbevölkerung und Institutionen. Doch nein, die Trümmer hier haben eine andere Ursache: menschliches Versagen, explodierendes Gas. 50 Schulkinder im Alter von fünf bis sechs Jahren sterben, dazu drei Lehrkräfte. Das tragische Unglück bewegt ganz Spanien.
Fernando Aramburu, 1959 in San Sebastián geboren, seit den 1980ern in Hannover lebend und seit dem Epos 'Patria' (2016), das den ETA-Terror zum Thema hat, in Deutschland einem breiten Publikum bekannt, hat die Tragödie von Ortuella mit einer kleinen Portion dichterischer Freiheit als Grundlage für seinen jüngst auf Deutsch erschienenen Roman 'Der Junge' genommen. Wie beim Bestseller 'Patria' ist ihm erneut ein großes, ein empathisches, ein bewegendes Buch gelungen. Aramburu, der selber zwei Jahrzehnte in Deutschland als Grundschullehrer gearbeitet hat, schafft es ganz ohne Voyeurismus und Gefühlsduselei, den Kummer in Worte zu fassen, den Schmerz in große Literatur zu verwandeln.
Immer wieder donnerstags schleppt sich der alte Nicasio auf den Friedhof. Seit dem Unglück ist er wunderlich, im Dorf verspotten ihn die Kinder, die Erwachsenen schütteln den Kopf. Nicasios Enkel Nuco ist eines der Opfer, beide waren unzertrennlich. Die Bettwäsche des Fußballclubs Athletic Bilbao hat der Großvater ihm geschenkt, immer wieder hat er ihn in die Schule gebracht, der Junge war das Licht des Witwers. Für Nicasio ist Nuco nicht gestorben. Der Alte leugnet den Tod, richtet das Kinderzimmer originalgetreu bei sich zu Hause ein, spricht mit dem Enkel, schimpft ihn sogar manchmal, geht mit ihm spazieren hinaus, wo die «dunklen Wolken, schwer von unbeweglichem, nebligen und trüben Grau über die Dächer von Ortuella diesen feinen Regen niedergehen ließen, der nicht herabzufallen, sondern in der Luft zu stehen schien.» Auch in 'Patria' war das baskische Grau trauriger Protagonist, die Regentropfen trauriger Sound im Hintergrund. Und auch die Sprache ist in 'Der Junge' erneut nüchtern, knapp und fast sogar karg und chronistenhaft, vermag dabei dennoch das Emotionale einzufangen.
Nucos Eltern, Mariaje und José Miguel, lassen den Alten gewähren, sie kämpfen jeder für sich mit dem Verlust, mit ihrer Traurigkeit. Mariaje, die Aramburu als Zeitzeugin dient und die in Wirklichkeit anders heißt, wird religiös, sie kramt das aus Olivenholz geschnitzte Kruzifix der verstorbenen Mutter Candelaria hervor. «Im Moment könne sie fromm oder verrückt werden oder beides», sagt sie. José Miguel, der große, kräftige, gutmütige und recht schlichte Kerl, stellt sich in seiner übertriebenen Fürsorge für Mariaje tollpatschig an. Er fürchtet zeitgleich um seinen Job in der Fabrik, zum Weinen verlässt er die Wohnung. Ein neues Kind? Ein Ersatz für Nuco? Es gelingt trotz mechanischem und immer liebloserem Sex nicht. Liegt es an ihm? Und hat Mariaje etwas zu verbergen? Eines Tages kehrt José Miguel nicht mehr vom Angelausflug im Kantabrischen Meer zurück. Was ist an Bord passiert?
Mariaje bekennt dem Autor: «Glauben Sie mir, ich empfand null. Mein Gefühl von Leere war total. (...) Ich will nicht behaupten, dass der Verlust des Jungen mich abgehärtet hätte. Wäre es nur so gewesen! Eher war es so, dass er mich innerlich hat erstarren lassen, mich gefühllos gemacht hat für viele Dinge, für die ich früher empfänglich war und jetzt nicht mehr.» Ohnehin hatte der Verlust zur Entfremdung geführt: «Auf irgendeine Weise mochte ich meinen Mann nicht mehr: sein Geruch, seine rauen Hände, die mich früher verrückt gemacht haben, seine ganze Art.»
Soll sie nun noch einmal schwanger werden? So wie damals? Mariaje, deren Erzählungen in der Ich-Perspektive abgelöst werden von einem Erzähler in der dritten Person und – ein literarischer Kniff Aramburus – dem Text, der zu den Lesern spricht, muss in ein neues Leben starten. Doch erst einmal sitzt sie bei ihrem Vater in dem Kinderzimmer ihres verstorbenen Sohnes – und spricht mit Nuco.
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